Text und Fotos von Alf Alderson
Ich war im besten Nachtlokal von Petropawlowsk-Kamtschatski gelandet, der Hauptstadt dieser Halbinsel. Zusammen mit einer Gruppe von Skifahrern aus England, Holland und Russland waren wir umgehend von Einheimischen umringt, die ziemlich scharf darauf waren, die neuen Jungs in der Stadt genauer unter die Lupe zu nehmen.
Frische Gesichter tauchen hier nicht allzu häufig auf – Kamtschatka liegt neun Zeitzonen und fast 7000 km östlich von Moskau, zählt aber immer noch zu Russland.
Erst seit dem Ende des Kalten Krieges können auch Landsleute von außerhalb, geschweige denn Leute aus dem Westen, diesen spektakulären Landstrich besuchen. Auch deswegen wirkte es ziemlich bizarr, quasi den roten Teppich ausgerollt zu bekommen, weil wir keine Locals waren.
An der Bar verwickelte mich Sergej in ein Gespräch, ein Einheimischen etwa Mitte 20, der mir erzählte, dass er Geld „sammelt“ und fragte, ob ich Sterling oder Euro bei mir hätte.
Unnötig zu erwähnen, dass ich sofort dachte, die sei nur ein Trick, um etwas Geld aus einem hirnlosen Ausländer zu quetschen, aber es stellte sich heraus, dass ein Hobby von Sergej tatsächlich das Sammeln von Fremdwährung sein sollte. Als ich ihm sagte, dass ich lediglich russisches Bargeld bei mir hätte – verständlicherweise in einem russischen Nachtclub – grub er einige chinesische Banknoten aus seiner Brieftasche, um sie mir unter die Nase zu halten und sagte dann: „Du kannst sie behalten.“
Ich ahnte bereits, dass sich hier einiges von einem gewöhnlichen Ski-Trip unterscheiden würde.
Ich zögerte erst, sein Geld zu nehmen, auch wenn die Scheine in der gegenwärtigen Situation völlig nutzlos für jeden von uns waren, aber Sergej bestand darauf. „Nein, nein, ich brauche es nicht, ich habe viel chinesisches Geld. Nimm es einfach als Andenken.“
Ich besitze die Noten sogar heute noch – mein Souvenir an das Skifahren in Kamtschatka. Und sollte ich jemals nach China gehen, wird es sich sogar irgendwann noch als nützlich erweisen.
Um ehrlich zu sein, braucht man keine Souvenirs von einem Ski-Trip nach Kamtschatka. Dies ist ein Ort, der so anders ist als überall sonst auf der Erde, dass sich die Erinnerungen für den Rest deines Lebens in dein Gedächtnis brennen.
In der Tat, als die Maschine nach dem langen Flug von Moskau über dem funkelnd blauen Wasser der Avacha Bay zum Landeanflug auf den Kamchatsky Petropavlovsk Airport angesetzt hatte, ahnte ich bereits, dass sich hier einiges von einem gewöhnlichen Skiausflug unterscheiden würde.
PARALLELUNIVERSUM
Dieser Flughafen machte direkt den Unterschied aus, vergleicht man ihn mit anderen internationalen Umschlagplätzen – der Mount Avachinsky erhebt sich mit seinem perfekten Kegel fast 3.000 Meter neben der Landebahn. Die exotische Rauchfahne aus vulkanischem Dampf aus dessen Gipfelkrater rundet den ersten Eindruck ab.
Diese Mischung aus wunderschöner Pazifikküste und den mit Schnee bedeckten Feuerbergen empfängt jeden Skifahrer in Kamtschatka, wo wir in den nächsten Tagen von verschiedenen Vulkanen Richtung Tal fahren werden.
Klar, es ist eine lange Reise, um hierher zu kommen, aber einmal in Kamtschatka erwartet dich ein Paralleluniversum aus russischer Wildnis mit teils fernöstlichem Flair – zu 100 Prozent unbeschreiblich beeindruckend.
Es stellte sich heraus, dass ich bei meiner ersten Abfahrt vom 2176 Meter hohen Vulkan Vilyuchinsky etwas Besonderes erleben durfte.
Alle Nebenwirkungen des Jetlag waren nach dem ersten Turn im knietiefen Powder unter blauem Himmel augenblicklich wie weggeblasen – knapp tausend Höhenmeter weiter unten am Berg hörte ich mich erst schreien und dann wie ein Wahnsinniger lachen.
Ich höre mich schreien und dann wie ein Wahnsinniger lachen. Viel besser kann es beim Skifahren kaum werden.
Unsere zwölfköpfige Crew hatte gerade ein offenes Tiefschnee-Feld ausgiebig bearbeitet, umgeben von einigen der einsamsten und gleichzeitig schönsten Berglandschaften auf der Erde, ohne auch nur einen anderen Skifahrer im Umkreis von Tausenden von Kilometern.
Viel besser kann es beim Skifahren kaum werden.
Marco Gaiani führte unsere Gruppe, ein wortkarger Guide aus Chamonix mit lakonischem Witz und einer gewissen französischen Sorglosigkeit. Über die folgenden vier Tage leistete er tolle Arbeit auf der Suche nach den besten Bedingungen für jeden Peak, den wir vor uns hatten.
Kein einfacher Job, denn trotz beeindruckender Schneefälle auf der Halbinsel mischt sich wegen der Nähe zum Meer immer zusätzliche Feuchtigkeit in diesemn Schnee; zudem sind orkanartige Winde fester Bestandteil des Klimas in Kamtschatka.
Wir stießen teilweise auf von Windböen verfrachteten Triebschnee und mussten uns gelegentlich durch nassen, schweren Schnee im unteren Teil des Berges talwärts kämpfen.
Dieses launische Klima erzwingt auch gewisse Ausfallzeiten, da mehr als ein paar Tage hintereinander mit gutem Wetter eine absolute Seltenheit in diesem Teil der Welt bedeuten.
Aber dank der Expertise von Marco und unserem anderen Bergführer Vitaly genossen wir in neun von zehn Fällen fantastischen Pulverschnee, sobald wir von einem der Gipfel abfuhren.
Natürlich muss man zunächst auf die Gipfel der Berge – das an sich ist schon ein Abenteuer.
Wir alle kennen Horrorgeschichten über russische Hubschrauber, aber in den vier Tagen fühlte ich mich auf den Flügen zu keinem Zeitpunkt unwohl in den Mi-8 Helikoptern. Die Piloten haben jahrelange Erfahrung in diesem Gebiet voller tückischer Wetterlagen. Außerdem könnten die Mechaniker wahrscheinlich aus einer Plastikflasche und einem Gummiband einen Teilchenbeschleuniger bauen.
Und das Beste: Du hälst einfach beim Flug den Kopf aus einem der lukenartigen Fenster – versuch das mal bei einem Heliski-Betrieb in Nordamerika…
Man stelle sich einen alten Schulbus vor, setzt Rotorblätter vorne und am hinteren Ende auf das Dach und schon hat man eine Mi-8; so in etwa jedenfalls.
Sie wackeln, klappern und befördern 15 oder mehr Skifahrer gleichzeitig zu den Powder Lines ihres Lebens.
Und das Beste: Du hälst einfach beim Flug den Kopf aus einem der lukenartigen Fenster – versuch das mal bei einem Heliski-Betrieb in Nordamerika…
Atemberaubende Landschaften
Marco gibt dem Piloten zu verstehen, wo er gerne landen würde, nachdem er den geplanten Run gecheckt hat. Falls eine Landung unmöglich erscheint, schwebt der Hubschrauber ein paar Meter über dem Schnee, damit alle Skifahrer aus der Tür zu springen können.
In Embryonalstellung verharren wir auf dem Gipfelkamm, um uns vor dem Schneegestöber zu schützen, den der Rotor aufgewirbelt. Als sich der kurzzeitige Blizzard legt, klart die Sicht auf und wir schauen über eine atemberaubende Landschaft.
Imposante Berge und Vulkane erstrecken sich in alle Richtungen, ausgenommen östlich, wo der Ozean 2000 Meter unter uns auf schwarze Sandstränden trifft.
Marco spricht wenig, er weiß genau, dass dies die Art von beeindruckenden Panoramablicken sind, für die man sich mehr als nur einen Augenblick Zeit nehmen sollte. Als wir schließlich in unseren Skibindungen steigen, zeigt er die Route an und startet, um die sicherste Line vorzugeben.
In der Tat sind die Schneefelder dann aber meistens so breit, dass genügend Platz ist, um seine eigene Linie zu finden.
Der Standard-Kommentar von jedem Freeskier lautet:
‚Bester Run meines Lebens!‘
Die Abfahrten sind auch so lang, dass mehrere Pausen auf dem Weg eingelegt werden, um den Blick zu genießen und die Spuren zu verfolgen, die wir in den vorher noch jungfräulichen russischen Pulver gezogen haben.
Vom Startpunkt geht es auf weit offenes Gelände, vorbei an blau glänzenden Gletschern in eine etwas steilere Schlucht bis zu einer riesigen natürlichen Bowl aus Schnee.
Weiter unten öffnet sich das Terrain erneut zu einem Powderfeld, das umrahmt wird von lichten Birkenwäldern, die zu einer Fahrt zwischen den Bäumen einladen. Auf den langen Abfahrten schnallten wir die Ski buchstäblich erst auf Meereshöhe wieder ab.
Der Standard-Kommentar von jedem Freeskier lautet:
‚Bester Run meines Lebens!‘
Schätzungsweise acht oder neun dieser „Lifetime bests“ hörte man jeden Tag von irgendwem. An einem speziellen Tag schafften wir über 11.570 Höhenmeter; ich habe mich noch nie in meinem Leben nach der Rückkehr von einem Ski-Tag so erschöpft gefühlt.
Nach vier aufeinander folgenden Tagen wie diesen ist es eigentlich fast eine Erleichterung, als sich ein Schneesturm heulend anbahnt und wir vorerst festsitzen.
Ich habe mich noch nie in meinem Leben nach der Rückkehr von einem Ski-Tag so erschöpft gefühlt.
Eine Chance, endlich die Beine auszuruhen und die Stadt mit meinem Ski Kumpel Rob zu erkunden. Dies war unsere erste Reise nach Russland und alles, was wir bis dahin gesehen hatten, waren Schnee, Meer und Berge ; keiner von uns konnte die Treppen des Hotels ohne Schmerzensschreie laufen, nachdem sich unsere Beine nach insgesamt 33.000 Meter „Vert“ in vier Tagen gegen jede Bewegung sträuben.
TOTALE WILDNIS
Petropawlowsk-Kamtschatski ist eine komplett isolierte Stadt – keine Straße verbindet sie mit der „Außenwelt“, so dass man entweder einfliegen oder per Schiff kommen muss.
Wenn man erst einmal raus ist aus der Stadt und der nahegelegenen russischen Atom-U- Basis Rybachiy befindet man sich in totaler Wildnis mit Braunbären, Wölfen, Polarfüchsen, Luchsen und Adlern, die im Vergleich zur menschlichen Bevölkerung deutlich zahlreicher sind.
Die Stadt (Петропавловск – Камчатский auf russisch) wurde vom Forscher Vitus Bering in den späten 1780er Jahren benannt und zieht Entdecker, Jäger und in letzter Zeit Ökotourismus an.
Als wir durch die matschigen Straßen der Innenstadt von „PK“ schlendern, müssen wir feststellen, dass die illegale Jagd auf Wildtiere hier zum Alltag gehört. Auf dem lokalen Markt werden Hüte und andere Kleidungsstücke aus Luchs-, Bären- und Wolfspelz für ein paar Rubel verkauft werden.
Wir bekommen sogar einige der Tiere hautnah zu Gesicht – ein Marsch zu den verfallenen Stadtrand führt uns am Ufer der Avacha Bay führt direkt zu einer Seelöwenkolonie.
Nie zuvor war mir klar gewesen, wie riesig diese Tiere in Wirklichkeit sind, bis ich wenige Meter vor ihnen stehe.
Außerdem schaffen wir es per Ski auf zwei der kleineren Berge von PK:
Krasnaya Sopka (Red Mountain) bietet einen spektakulären Blick über den Hafen der Stadt und Avacha Bay.
Leider fühlt sich der Schnee wie flüssiger Zement an, also reicht es uns nach einem Run, obwohl man nur ein paar Rubel für jede Fahrt mit dem Schlepplift bezahlt
Dies ist eigentlich die letzten Abfahrt, die wir in Kamtschatka nutzen, weil der Schneesturm in den Bergen tobt und während des restlichen Aufenthalts nicht mehr in den Heli lässt.
Da die Region für sein raues Klima bekannt ist, war es für uns nicht überraschend, aber etwas enttäuschend, dass uns ein abschließender Ausflug in die Wildnis dieser unvergesslichen Berglandschaft vergönnt bleibt.
Aber Schätze wie diese sind niemals leicht zu heben, vielleicht ist es genau deswegen solch ein besonderes und einschneidendes Erlebnis…
DO IT YOURSELF
EA Heliskiing (eaheliskiing.com; info@eaheli.com) bietet ein sechtägiges Heliski-Gruppenpaket in Kamchatka für 5800 Euro an.
Flüge von London nach Petropavlovsk-Kamchatsky mit Aeroflot starten bei 700 Euro.
Die Saison für Heliski läuft von Mitte März bis Mitte Mai.